Montag, 11. Mai 2015

wunschpunch

Jenny Schröer, Mitstreiterin aus uralten Jugendpartizipationszeiten, hat mich bei Facebook auf einen Essay von Nils Markwardt bei der Online-Zeit zur Rezeption der derzeitigen Streiks in Deutschland hingewiesen. Das darin enthaltene Theoretiker*-Namedropping und der stellenweise durchkommende hochschullinke Jargon sind m.E. unnötig, aber das macht nichts. Was der Essay vor allem enthält, sind zwei wunderbare zitierwürdige Stellen:
Die SPD agiert momentan also ungefähr so sozialdemokratisch wie Ayn Rand beim Restpostenverkauf.
Und:
Der Staat firmiert bei vielen Bürgern als politische Wunschmaschine, in dessen Maschinenraum man aber lieber keinen Blick werfen will.
Insbesondere letzteres Zitat drückt präzise einen Gedanken aus, den ich regelmäßig habe, vor allem, wenn ich Kommentare unter Online-Presseartikeln zu kommunalpolitischen oder auch lokalwirtschaftlichen Themen lese. Die Männer*, die da schreiben, haben keine Hemmungen, vom Staat (interessanterweise meistens von der Kommune) die Lösung buchstäblich aller Alltagsprobleme zu verlangen. Wenn auf der Straße Betrunkene herumschreien, greifen die Leute heute nicht mehr zum Wassereimer oder rufen die Polizei, sondern rufen nach der Politik, damit diese das Problem prinzipiell und grundlegend lösen möge. Wenn es an billigen Wohnungen mangelt, gründet man keine Spar- und Bauvereine oder Wohnungsbaugenossenschaften mehr, sondern beschimpft den Staat dafür, dass er die (immer wenigen, immer persönlich genannten, immer als »Spekulanten« verteufelten) Privatinvestoren nicht vom Bauen abhält.
Was meine alte Heimat Marburg betrifft, konnte man in der Oberhessischen Presse online schon Leser*meinungen sehen, die die Stadt für den Mangel an Diskotheken oder bestimmten Einzelhandelsgeschäften verantwortlich machten. Andererseits beschwert man sich – bis hoch zu Spitzenkandidaten* der Parteien für die kommende OberbürgermeisterInnenwahl – gleichzeitig über die schlechten Straßen und die vielen Straßenbaustellen. (Dass man gegen Bauprojekte protestiert, weil sie während der Bauzeit Behinderungen verursachen, selbst wenn man sich den Endzustand wünscht, ist ohnehin überall völlig üblich.) Sogar verschwörungstheoretische Elemente kommen hoch, wenn etwa gemutmaßt wird, die rotgrüne Stadtverwaltung plane die Baustellen absichtlich so, dass der Autoverkehr behindert werde, um den Bürgern* das Autofahren abzugewöhnen.
Gleichzeitig aber – und auch das thematisiert Markwardts Essay – halten die Kommentatoren gerne das Fähnchen des hart arbeitenden (und weit pendelnden!) Pflichtmenschen hoch, der nie auf die Idee käme, zwecks Durchsetzung einer Forderung die Arbeit einzustellen oder zwecks politischen Engagements mal eine Stunde früher Feierabend zu machen, und der in alle Richtungen wahllos andere der Faulheit und des Anspruchsdenkens bezichtigt. Die Metapher von der Wunschmaschine trifft es genau: »Der Staat« bzw. »die Politik« (Zuständigkeiten werden grundsätzlich nicht differenziert, man beschimpft beispielsweise einen Baubürgermeister wegen Ordnungsamtsangelegenheiten, die gar nicht in sein Ressort fallen) soll alles richten, aber ohne eigenes Engagement, das über Nörgelei hinausginge, und ohne irgend eine Rücksicht auf Interessenausgleich mit anderen, Machbarkeit oder die tatsächliche politische Gemengelage. Nur so ist es möglich, »die Politik« des Nichtstuns, des Desinteresses und der Inkompetenz zu bezichtigen und gleichzeitig Streikende, Demonstrierende oder auch nur parteipolitisch engagierte pauschal zu diffamieren.
Ich kenne mich mit Psychoanalyse nicht aus, aber es gibt da bestimmt einen Fachterminus für die Situation, in der jemand von einer Übervater- oder -Mutterfigur die Lösung seiner Lebensprobleme verlangt und daran notwendig scheitert. Das, was dies in der deutschen Situation hervorbringt, wird normalerweise als Politikverdrossenheit oder Wutbürgertum beschrieben. Es ist die enttäuschte Abwendung derer vom Staat, die sich nie von ihm abnabeln konnten.

*maskuline Form Absicht

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