Donnerstag, 20. Oktober 2011

time will run back and fetch the age of gold

Vor über fünf Jahren habe ich schon einmal vom »deutschen Noch« geschrieben, dem Wörtchen, mit dem es Deutsche, die über andere Deutsche sprechen, schaffen, alles, was bei jenen irgendwie richtig läuft, als letztes Aufbäumen vor dem unvermeidlichen Niedergang darzustellen (»noch hat Deutschland eine gute Verkehrsinfrastruktur«, »noch ist der deutsche Fußball international bedeutend«). Es gibt eine andere Erscheinung, die sich nicht mit einem einzelnen Wort designieren lässt, aber mindestens genauso schädlich und bescheuert ist: nämlich das Darstellen von nötigen und wichtigen Fortschrittsleistungen, die erbracht werden müssen, als Rückkehr zu einem irgendwann einmal gewesenen fiktiven besseren Zustand.
Da wird dann so getan, als seien mehr Lebensmittelsicherheit, bessere Kennzeichnungen, regionalere und besser schmeckende Lebensmittel und weniger Wegwerfen bloß ein allfälliges Rückbesinnen auf das Gewesene - als hätte es das Wegrotten von Getreide, Obst und Wurzelgemüse über den Winter nie gegeben, als seien Mutterkorn und Sand im Mehl, als seien Kalk und Bleiweiß in der gepanschten Milch, als seien Trichinen und Dreck in der Wurst nur schlechte Propaganda gewesen, als sei über tausende Kilometer importierter Salzfisch nicht zirka achthundert Jahre lang ein Grundnahrungsmittel der Armen gewesen. Entsprechend verkauft man uns die nötige weitere Humanisierung der Arbeitswelt als Rückkehr in eine goldschimmernde DGB-Wunderwelt der 1970er, in der ausnahmslos alle unbefristete, sozialversicherte Vollzeitstellen hatten und es selbstverständlich weder Tagelöhner noch Hilfsarbeiter noch Hausfrauen noch Leichtlohngruppen oder Heimarbeit im Akkord gab; und die nötige Umstrukturierung des Gesundheitssystems als Rückkehr zu Zeiten, als die Kasse jedem alles zahlte und natürlich niemand irgendwelche Zivilisationskrankheiten hatte; und so weiter und so fort. Es wäre doch ganz nett, wenn sich wenigstens die Presse einmal darauf einigen könnte, dass auf vielen, wahrscheinlich den meisten Gebieten das, was heute schlecht ist, besser werden muss, eben gerade nicht deswegen, weil es früher einmal besser war, sondern weil es in Zukunft besser sein soll.

2 Kommentare:

  1. DGB Wunderwelt tststs
    Aber warum dieses Wörtchen "nötig"? Ich halte das hier für überflüssig ;)

    AntwortenLöschen
  2. Wieso? Weil du es pleonastisch findest? Oder weil du der Meinung bist, das mit der Verbesserung der menschlichen Lebensumstände sei irgendwie optional?

    AntwortenLöschen

Ich freue mich prinzipiell über jeden Kommentar, bitte aber um einen zivilisierten Ton und behalte mir vor, Kommentare ohne Angabe von Gründen abzulehnen oder auch nachträglich zu löschen.