Dienstag, 31. Januar 2012

briefe an meine nichtleser iv

Liebes »free education movement marburg«,
ich gebe es zu: ihr seid ein leichtes Ziel für Spott. Ob das nun euer Newsletter ist, der 150prozentiges Klischee-Marburgertum mit der Tierschutzbeflissenheit und typographischen Verunglücktheit einer Schülerzeitung verbindet, ob das die restringierte Sprache eurer Verlautbarungen ist, die den Eindruck macht, dass kein Satz vorkommen darf, der nicht in einer Frequenzanalyse sämtlicher hochschulpolitischer Mensaflyer der letzten zehn Jahre hoch abschneiden würde, oder schlicht eure extrem unglücklich gewählte Domain freedumm.de.vu.
Aber gerade deswegen gilt, dass ihr und eure Äußerungen als besonders repräsentativ für das gelten könnt, was ich der Einfachheit halber einmal als »den ganzen Unfug« bezeichnen möchte. In eurem neuesten Newsletter kann man letzteren in Reinkultur besichtigen, in einem aus rein gar nichts als recycelten Phrasen bestehenden Grundlagentext namens »Scheiß auf Nation!«, der mit dem wohl tatsächlich ernst gemeinten Untertitel »Ansatz der Dekonstruktion eines Konstrukts« daherkommt und einen atemberaubenden Einblick in die Untiefen des Denkens weiter Teile des Marburger hochschulpolitischen Milieus bietet. Aus diesem Text, der das ja eigentlich rundum lobenswerte Ziel verfolgt, zu zeigen, dass Nationalstaaten eine fragwürdige Errungenschaft sind, kann man lernen, dass:
  • die Aufforderung »Scheiß auf Nation!« eine Aussage sei und
  • als provokativ empfunden werde (wo? an der Marburger Universität? meint ihr das ernst?);
  • Menschen zu »zufälligen Gegebenheiten« »keine engere Bindung entwickeln« müssten (in Zukunft also nur noch arrangierte Ehen und keine Liebe mehr für zugelaufene Haustiere);
  • beim »heutigen Stand der Technik« »niemand auf der Erde mehr (ver)hungern« müsste und »alle ein gutes Leben haben« könnten, wenn wir nur »gemeinsam über die Produktionsmittel verfüg[t]en« sowie die »moderne Gesellschaft als ein Feld widerstreitender Interessen und Akteure« begriffen werden könne (gut, dass das alles endlich mal jemand sagt);
  • Staaten »die Bedingungen erschaff[t]en und durchsetz[t]en, die das kapitalistische Wirtschaften zur Folge haben« (da war doch mal was mit Dialektik...);
  • dass das Stabilitätsgesetz von 1967 irgendwie dazu diene, die Bevölkerung zufrieden zu stellen und damit das Privateigentum zu sichern;
  • die Finanzkrise seit Kurzem vorbei sei;
  • »die überwiegende Mehrheit unter immer beschisseneren Lebensbedingungen« leide, wahrscheinlich, weil der »immer stärker werdende Druck, welcher vom Spiel des globalen Wettbewerbs entfaltet wird[, ...] uns alle krank macht« - deswegen wahrscheinlich auch die seit Jahrzehnten stetig fallende Lebensarbeitszeit und die stetig steigende Lebenserwartung;
  • Staat und Nation in Krisenzeiten besonders bejubelt würden und »die Menschen während wirtschaftlicher Krisen besonders dazu tendier[t]en, sich in nationale Kollektive einzufügen« (ist es verabscheuenswürdiger Positivismus, hier nach Belegen zu fragen?);
  • jede Abgrenzung zwischen Völkern rassistisch sei - die rein sprachliche Abgrenzung, die z.B. vor 1918 in Österreich-Ungarn Staatspraxis und bis mindestens 1945 weithin beliebt war, also ebenfalls, man höre und staune; aber auch »Rasse« sei ja bloß ein rassistisches Konstrukt (konstruiert vermutlich in der Redundanzabteilung für Redundanz);
  • es an den Hochschulen nur noch um »hochschulische Ausbildung« gehe - der beispiellose Boom geisteswissenschaftlicher Studiengänge in Deutschland in den letzten 10-15 Jahren muss wohl daran liegen, dass dort so viele unmittelbar berufsrelevante Inhalte gelehrt werden, dass die AbsolventInnen dann direkt fit für den mörderischen Arbeitsmarkt (Zitat: »Horror«) sind;
  • Sprache, Geschichte und Kultur nichts seien als »irgendwelche belanglosen Worte in noch belangloseren Dokumenten«.
Und dieser letzte Satz erscheint mir dann doch irgendwie wieder passend.
Viele Grüße
m.

2 Kommentare:

  1. Und ich hab heute erst in anderer Angelegenheit darüber gespottet, dass es ein generelles Problem der "Linken" ist, alles genau zu definieren, zu katalogisieren, zu diskutieren und kaputtzulabern.
    In Marburg schien mir das im Übrigen schon immer besonders ausgeprägt, gepaart mit einer Marburg eigenen Aggressivität in der ganzen Angelegenheit.

    Auch vielen Dank für den wunderbaren (Teil)Satz "vermutlich konstruiert in der Redundanzabteilung für Redundanz". Hat meinen Tag deutlich besser gemacht.

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  2. "freedumm.de" Ich schmeiß mich weg!!

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